Von Fanny Jimenez
Manchmal fährt Bertil Bouillon im Urlaub mit seinem Fahrrad lange Promenaden an der See entlang, den Wind im Gesicht. Einen Helm auf dem Kopf trägt er dabei nicht immer. Aber nicht wegen der Frisur, wie er sagt. Haare hat er nämlich keine mehr. Bouillon ist Direktor der Klinik für Unfallchirurgie, Orthopädie und Sporttraumatologie am Klinikum Köln-Merheim, und er findet, dass eine Gesellschaft es aushalten muss, wenn Menschen sich keinen Fahrradhelm aufsetzen – auch wenn das mal schiefgeht. „Aber es ist spannend zu sehen, wie eine Gesellschaft sich zu solchen Fragen positioniert“, sagt er.
Natürlich wäre es einfach, eine Helmpflicht für alle Fahrradfahrer einzuführen, wie sie in Spanien, Finnland oder Neuseeland bereits seit Jahren besteht. Aber Experten, die sich wie Bouillon mit dem Thema beschäftigt haben, lehnen das inzwischen mehrheitlich ab. Zwar hätte die Helmpflicht aus gesundheitlicher Sicht nur Vorteile – doch vor allem, so die Vermutung, würde sie dazu führen, dass viele Menschen in Deutschland dann dauerhaft vom Fahrrad steigen würden.
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat sich in der vergangenen Woche in gleicher Weise positioniert. Er gab Sabine Lühr-Tanck recht, der 61-Jährigen, die im Jahr 2011 auf dem Weg zu ihrer Physiotherapie-Praxis in Glücksburg war, als eine im Halteverbot stehende Autofahrerin plötzlich die Wagentür öffnete. Die Radfahrerin zog sich einen zweifachen Schädelbruch, Hirnquetschungen und Blutungen zu. Obwohl sie nicht für den Unfall verantwortlich war, gab ihr das Oberlandesgericht in Schleswig zunächst eine 20-prozentige Mitschuld – weil sie keinen Helm trug, der die Kopfverletzungen hätte verhindern können. Der BGH urteilte nun: Radfahrer haben auch ohne Helm bei unverschuldeten Unfällen vollen Anspruch auf Schadenersatz. „Alles andere hätte mich auch gewundert und meinem Bürgergefühl widersprochen“, sagt Bouillon.
Er spricht zugleich als Präsident der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie. Einen Schutzhelm zu tragen könne man jedem nur empfehlen. Jeden einzelnen Fahrradfahrer dazu zu zwingen hält er aber für überzogen. Wo solle man da sonst die Grenze ziehen? Warum sollten Fußgänger, die ebenfalls häufig in Verkehrsunfälle verwickelt werden, dann keinen tragen? Im Vergleich zu vielen anderen sei Radfahren keine Hochrisikosportart – außer bei Mountainbikern, die aber ohnehin nur in sehr seltenen Fällen ohne Helm unterwegs seien.
Sinnvoll ist ein Helm aber natürlich, vor allem bei ungeübten oder unsicheren Fahrern wie Kindern und Senioren. „Er verhindert zwar keine Unfälle, reduziert aber die Schwere der Verletzungen“, sagt der Experte. Kopfverletzungen gehören mit einem Anteil von 25 Prozent nicht zu den häufigsten Verletzungen, die Fahrradfahrer bei Verkehrsunfällen erleiden. Bouillon sieht in der Notaufnahme viel häufiger kaputte Schultergürtel und Schlüsselbeine, zertrümmerte Knie, Ellenbogen und Handgelenke sowie Prellungen, Riss- und Quetschwunden. 60 Prozent aller Verletzungen betreffen die Gliedmaßen, 15 Prozent Bauch, Rücken, Wirbelsäule, Schultern oder innere Organe. Wenn es aber doch den Kopf trifft, dann richtig: Bei den lebensgefährlichen Verletzungen ist der Kopf mit über 70 Prozent der am häufigsten betroffene Körperteil. Meist, sagt Bouillon, passiere das, wenn Autofahrer beim Abbiegen einen Radfahrer erwischen. Wie häufig ein Helm aber schwere Kopfverletzungen wirklich verhindern oder mildern kann, das ist nicht so einfach zu sagen. Denn die Styroporschale schützt nur Teile des Kopfes – und das bei besonders schweren Stürzen auch nur eingeschränkt.
Gernot Sieg, Direktor des Instituts für Verkehrswissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, geht davon aus, dass die Schwere einer Kopfverletzung bei gut jedem zweiten Unfall mit Helm reduziert wird. Der Wissenschaftler wird in Kürze im Journal „Transportation“ eine Studie veröffentlichen, in der er der Frage nach Sinn oder Unsinn einer Helmpflicht mit Zahlen beikommen will. Er hat den gesamtgesellschaftlichen Nutzen einer Helmpflicht gegen die Kosten aufgewogen, die eine solche Verpflichtung aufwerfen würde. Sein Ergebnis: Die Kosten wären um 40 Prozent höher als der Nutzen. Sieg hat in seiner Kosten-Nutzen-Analyse die aktuelle Helmtragequote von 13 Prozent, die von jedem Bundesbürger 401 jährlich geradelten Kilometer ebenso wie die Unfallstatistiken zum Fahrradfahren mit einfließen lassen. Er hat auch berechnet, wie hoch die Kosten der Fahrradhelme wären, die dann erst noch gekauft werden müssten – und wie viele Menschen sich dann langfristig gegen das Radfahren entscheiden würden.
Die hohen Kosten, sagt er, kommen vor allem durch Letzteres zustande. Wenn Radfahrer absteigen, hat das gesundheitliche Folgen, gerade die gefürchteten Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Mindestens 4,5 Prozent der Radler würden das Fahrrad infolge einer Helmpflicht stehen lassen, wie eine Studie in einigen Provinzen Kanadas zeigte, als dort die Helmpflicht eingeführt wurde. Wäre dies auch hierzulande der Fall, entstünden zusätzliche Gesundheitskosten in Höhe von 472 Millionen Euro. Dazu kämen gestiegene Umweltkosten durch mehr Abgase, wenn die 4,5 Prozent auf andere Verkehrsmittel ausweichen.
„Würde die Zahl der Radfahrer sich nur um 1,25 Prozent reduzieren – was pro Person einer Fahrt im Jahr von etwa fünf Kilometern entspricht –, dann würde es sich rechnen“, erklärt Sieg. Wahrscheinlicher sei aber, dass der Rückgang noch weitaus dramatischer ausfiele, bis zu 20 Prozent, wie Umfragen vermuten lassen. „Alles, was den Menschen von seinem Fahrrad vertreibt, ist schlecht“, sagt Sieg. Nicht nur eine mögliche Helmpflicht, sondern auch Schockkampagnen, die Kommunikation der Polizei, Ärzte und Medien hätten Einfluss darauf, wie der Einzelne sein Risiko einschätzt, mit dem Rad zu verunglücken. „Risiken zu betonen ist immer ein zweischneidiges Schwert, weil das im Zweifel nicht nur dazu führt, dass Menschen Vorsichtsmaßnahmen treffen, sondern auch dazu, dass sie das Fahrradfahren dann manchmal sein lassen.“
Mit der Risikokommunikation hat auch Bertil Bouillon seine Probleme. Schockieren durch das ständige Aufzeigen von Gefahren sei nicht sinnvoll, Kinder von klein auf ans Helmtragen zu gewöhnen hingegen schon. Die Quote der Helmträger sei zwar insgesamt noch niedrig, aber sie nehme stetig zu – besonders bei den Kindern und Jugendlichen. „Wächst man damit auf, ist es selbstverständlich und man behält das Verhalten auch bis ins Erwachsenenalter bei“, sagt der Chirurg. „Aber erklären Sie einem Rentner von 75 Jahren mal, dass er plötzlich einen Helm aufsetzen soll, wo ihm sein ganzes Leben lang nichts passiert ist ohne.“ Wichtig findet er auch eine bessere Infrastruktur für Radfahrer. In den Niederlanden, wo es keine Helmpflicht gibt, sei die Verletzungshäufigkeit niedriger und die Schwere der Verletzungen geringer als hier – weil das Radnetz viel besser ausgebaut sei.
Seine Studie, betont der Verkehrswissenschaftler Gernot Sieg, zeige ohnehin nur die gesamtgesellschaftlichen Konsequenzen einer Helmpflicht auf, aber nicht das Risiko und den Nutzen des Fahrradhelms für jeden Einzelnen. „Die Entscheidung, einen Helm aufzusetzen oder nicht – die muss jeder weiterhin für sich ganz persönlich treffen.“
Daten und Fakten
74.776…
… Radfahrer verunglückten nach Angaben des Statistischen Bundesamtes im Jahr 2012. Davon waren rund 60.000 leicht verletzt, gut 14.000 schwer verletzt. 406 Menschen starben beim oder infolge des Unfalls.
6 Prozent …
… mehr Fahrradfahrer starben zwischen 2010 und 2012 als in den Jahren zuvor auf Europas Straßen, wie die EU-Kommission kürzlich bekannt gab. Grund: Es fahren schlicht mehr Menschen Rad als früher.
75 Prozent …
… aller Kinder im Alter von sechs bis zehn tragen regelmäßig einen Fahrradhelm. Bei den Fahrradfahrern über 30 Jahren sind es derzeit nur 15 Prozent. In allen Altersgruppen steigt die Quote der Helmträger aber jährlich leicht.
25 Prozent …
… aller Verletzungen infolge von Fahrradunfällen betreffen den Kopf. Weitaus mehr Verletzungen, 60 Prozent, betreffen Arme und Beine. Sehr typisch für Fahrradunfälle sind Schlüsselbeinbrüche.
Quelle: Die Welt
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